Es war am 12. Januar 1983. Ich musste, wie alle Frauen im Osten, zur Arbeit. Zusammen mit meiner noch nicht 2jährigen Tochter verließ ich um 6.10 Uhr unsere Wohnung. Ich schob mein Kind im Sportwagen vor mir her und wollte es in die Krippe bringen.
Wie immer waren in unserem Wohngebiet alle Straßenlaternen ausgeschaltet, und es war stockdunkel. Man war auf das spärliche Licht, das durch die Wohnungsfenster schien, angewiesen und konnte sich dadurch einigermaßen orientieren.
Es war kalt, schließlich hatten wir Winter.

Ich schob meine Tochter vor mir her und lief schnellen Schrittes.
Plötzlich trat ich mitten auf dem Gehweg in Wasser, eine Pfütze, wie ich zunächst annahm. Eine ziemlich tiefe Pfütze, wie mir noch auffiel, als ich auch schon ins Bodenlose trat und samt Kind und Sportwagen im Wasser versank. Ich versank bis unter die Achseln, meine Tochter war angeschnallt und stürzte samt Wagen vollständig ins Wasser. Mein Kind mit Bärenkräften samt Wagen aus dem Wasser hieven und dabei denken „oh Gott, wir sind in einen Gulli gefallen“, das war alles eins.
Doch dieses Wasserloch mitten auf dem Gehweg war kein Gulli, dafür war es viel zu groß.
Meine Tochter war von Kopf bis Fuß nass und schrie. Ich stand entsetzt im Wasser, hielt den schweren Wagen mit meinem Kind in den Armen und wusste, wir brauchten Hilfe. Ich konnte mein Kind nicht abschnallen, hatte keine Hand frei. Ich schrie um Hilfe. Wieder und wieder. Niemand kam, obwohl überall Licht in den Wohnungen und die Leute auf waren.
Es vergingen Minuten.
Endlich kam eine Frau mit dem Fahrrad angefahren. Sie fuhr langsam neugierig an uns heran – und fuhr weiter! Ich war fassungslos. Ich rief: „Hilfe! Hilfe!“ Doch sie kümmerte sich nicht um uns.
Ich rief unermüdlich weiter. Endlich kam eine andere Frau mit einem kleinen Jungen, der vielleicht vier Jahre alt war, per Fahrrad angefahren. Sie stieg sofort ab und sprach mich an. Dann versprach sie, Hilfe zu holen und raste mit dem Fahrrad davon. Der kleine Junge blieb bei uns am Loch. Ich werde nie vergessen, wie er versuchte, mich am Arm aus dem Wasser zu ziehen, dieser kleine liebe Kerl.
Es vergingen wieder Minuten. Ich rief unermüdlich um Hilfe. Ich befand mich in einer Wohngegend voller Menschen, die alle wach waren und mich hören mussten. Doch niemand kam.
Die junge Frau kehrte zurück. Sie hatte von ihrem Betrieb aus die Polizei angerufen (privat hatte ja kaum jemand Telefon) und den Vorfall gemeldet, doch die hatten ihr geantwortet, dafür seien sie nicht zuständig. Und fertig waren sie mit dem Fall.
Die Frau entschuldigte sich und fuhr mit ihrem Sohn davon.
Wir waren wieder allein.
Man muss sich vor Augen halten: Ich stand die ganze Zeit bis zu den Achseln im Wasser, und es war Winter. Doch ich spürte die Kälte nicht, denn ich hielt mit Bärenkräften den Wagen mit meinem Kind über Wasser. Und ich konnte mein Kind nicht mal streicheln.
Ich rief um Hilfe. Wieder und wieder.
Von Ferne (ich schätze 200 m von mir) hörte mich ein Mann. Er befand sich in der Hauptstraße, die beleuchtet war, ich konnte ihn sehen. Doch er konnte mich nicht sehen, ich befand mich ja in Stockdunkelheit. Ich sah, wie er zögerte, weiterzugehen, stehen blieb, in die Dunkelheit lauschte. Ich rief jetzt erst recht laut, wollte ich doch nicht, dass er wegging.
Zögernd trat er ein paar Schritte in unsere dunkle Richtung, sah offensichtlich nichts. Ich rief immer weiter. Er folgte meinem Rufen und ging etwas schneller. Zum Schluss rannte er sogar, denn inzwischen sah er uns.
Mit den fassungslosen Worten „Das gibts doch nicht“ hievte er als erstes den Wagen mit meiner immer noch weinenden Tochter aus dem Wasser. Dann packte er mich und versuchte, mich aus dem Wasserloch zu ziehen. Doch meine Füße samt Stiefel steckten im aufgeweichten Grund, waren wie eingesaugt. Der Mann schaffte es trotzdem, mich herauszuziehen.
Ich dankte ihm von Herzen, vergaß leider, nach seinem Namen zu fragen.
Ich danke ihm noch heute. Er war der einzige Mensch, der uns geholfen hat.
Später klärte sich, was die Ursache des Wasserloches mitten auf dem Gehweg war und wie böse alles hätte ausgehen können. Ein unterirdisches Wasserrohr war geplatzt, das Wasser war ausgetreten und hatte den Weg unterspült, so dass er eingebrochen war. Ein Loch, reichlich badewannengroß und etwa 1,35 m tief, war entstanden. Ein Drama wäre passiert, wenn das Rohr ein oder mehrere Stunden früher geplatzt wäre. Denn dann wäre das Wasserloch garantiert größer und tiefer gewesen. Ich selbst hätte mich schwimmend über Wasser halten können, doch den schweren Wagen mit dem angeschnallten Kind zu halten, das wäre mir nicht möglich gewesen. Meine kleine Tochter wäre ertrunken.
Diese furchtbaren Gedanken haben mich immer wieder verfolgt, und ich habe lange unter ihnen gelitten.

Undine März

Von hemueveg